SACK, Manfred/ U. SACHSSE/ J. SCHELLONG: Komplexe Traumafolgestörungen [Fachbuch]
Martin Sack/ Ulrich Sachsse/ Julia Schellong (Hrsg.): Komplexe Traumafolgestörungen. Diagnostik und Behandlung von Folgen schwerer Gewalt und Vernachlässigung
(Stuttgart 2013)
In den letzten zwanzig Jahren gab es im relativ neuen Arbeitsbereich der Psychotraumatologie einen durchaus gesunden Wildwuchs an Forschungserkenntnissen, Definitionen, Konzepten, Methoden, therapeutischen Erfahrungen und (nicht zuletzt) profilierten Darstellungen von Betroffenen. Für fachliche HelferInnen wurde es schwer, sich zwischen all dem praxisnah zu orientieren. – Notwendige Grundlage für weitere Forschung und Therapie ist jetzt eine Klassifizierung von Traumafolgestörungen auf dem heutigen fachlichen Niveau. (Die beiden finanzierungsbezogenen diagnostischen Systeme ICD-10 und DSM-V erfüllen diese Aufgabe bekanntlich nicht.) Eine Arbeitsgruppe der DeGPT erarbeitete in den letzten Jahren einen Vorschlag zur Klassifikation "Komplexer Traumafolgestörungen". Diese meiner Meinung nach sehr zweckmäßige neue Konzeption bildet den Kristallisationskern des vorliegenden Buches (und wird dort umfassend dargestellt). Notabene: "Komplexe Traumafolgestörungen" meint also nicht "Komplexe PTBS" (nach Herman).
Das Buch enthält auf 580 zweispaltig gedruckten Seiten 33 Beiträge; die meisten AutorInnen arbeiten als ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen im fachklinischen Bereich. Sie bieten eine zumeist praxisorientierte Übersicht über das Spektrum der Folgen schwerer und langdauernder Traumatisierungen und deren Therapie. Grundlegende Kapitel beschreiben Neurobiologie, Diagnostik und Differenzialdiagnostik. Der größere Teil des Buches befaßt sich mit therapeutisch relevanten Zusammenhängen. – In einer höchst subjektiven Auswahl sollen hier einige Worte folgen über Beiträge bzw. Hinweise, die für mich etwas Besonderes waren.
> Schellong: 'Diagnostische Klassifikation von Traumafolgestörungen'. Hier befindet sich der oben erwähnte Vorschlag zu einer erweiterten Klassifikation von Traumafolgestörungen.
> Menne und Ebbinghaus machen in ihrem Beitrag zu 'Befund und Diagnosestellung' aufmerksam auf die Konzeption der "Entwicklungstraumastörung" (nach van der Kolk).
> Innerhalb des Beitrags von Wirtz/ Overkamp/ Schellong: 'Instrumente zur strukturierten 'Diagnostik' finden sich Hinweise auf Instrumente (Fragebögen/strukturierte Interviews) zur Ressourcendiagnostik.
> Ebbinghaus: 'Gutachterliche Diagnostik'. – Thema u.a.: Glaubwürdigkeit.
> Rießbeck/Sachsse: 'Komplexe Versorgungsmodelle für komplex Traumatisierte': Beantragungs- und Argumentationsmöglichkeiten gegenüber MDK und anderen Kostenträgern. Korreliert mit den Überlegungen zur gutachterlichen Tätigkeit (Ebbinghaus).
> Karameros und Sack: 'Grundstrategien in der psychotherapeutischen Behandlung'. – Ein wunderbarer Beitrag, der ebenso präzise wie sinnlich nachvollziehbar methodenübergreifende Grundkriterien für die Traumatherapie anbietet. Ein Gegengift gegen die zunehmend grassierenden Therapiemanuale!
> Ziegler: 'Komplexe Traumafolgestörungen bei älteren Patienten'. – Überblicksdarstellung zu einem sehr selten diskutierten Thema!
> Rießbeck: 'Patienten mit Behinderungen'. – Gut, daß das Thema mit einem Beitrag gewürdigt wird, jedoch schreibt der Autor zu Recht in seinem Eingangssatz: "Menschen mit Behinderungen können keinesfalls als eine Gruppe angesehen werden."
> Fliß: 'Behandlung von Opfern organsierter Gewalt' und: 'Psychotherapie bei noch bestehendem Täterkontakt'. – Die sehr übersichtlichen Darstellungen sind auch hilfreich für TherapeutInnen, die mit diesem Klientel (noch) nichts zu tun hatten.. – oder es zumindest nicht gemerkt haben!
> Heyden: 'Behandlung von Tätern mit komplexen Traumafolgestörungen'. – Gerade weil die Mehrzahl von fachlichen HelferInnen mit diesem Klientel nichts zu tun haben, ist dieser in das gern ignorierte Thema einführende Beitrag umso begrüßenswerter. (Wer will, kann weiterlesen bei der umfassenden Monografie von Heyden/Jarosch im selben Verlag.)
> Gahleitner: 'Genderaspekte in der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen'. – Es wird deutlich, daß es gerade im Bereich der menschengemachten Traumatisierung Sinn macht, zwischen weiblichen und männlichen Opfern bzw. Tätern zu unterscheiden und Therapiekonzepte entsprechend zu nuancieren!
> Lüdecke/ Voigt/ Teunißen/ Schäfer: 'Behandlung von Patienten mit Suchtproblemen'. – Sucht & Trauma, diese sehr häufige Komorbidität erfordert spezielle therapeutischen Konzepte.
> Sack und Mattheß: 'Somatoforme Störungen und komplexe Traumafolgestörungen'. – Sehr wichtig der Hinweis auf die intrusive Symptomatik somatoformer Störungen.
> Schäfer: 'Behandlung von Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen und psychotischen Erkrankungen'. – Noch vor zehn Jahren wollte im psychiatrischen Umfeld kaum jemand etwas wissen von Zusammenhängen zwischen Trauma und Psychose; da scheint sich etwas zu ändern!
> Reichel: 'Psychosomatische und psychiatrische Pflege bei Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen'. – Ein wunderbarer, an der Praxis des Pflegepersonals orientierter Beitrag! Die Autorin ist Pflegedienstleiterin in einer Traumafachklinik, gleichwohl könnte ihr Beitrag nützlich sein auch für Pflegeteams in Akutpsychiatrien. Einweisungen von PatientInnen mit Traumafolgestörungen führen aufgrund der typischen Stationssituation zu viel zusätzlichem Leid bis hin zu Retraumatisierungen. Manches davon ist vermeidbar.
Alles in allem: ein Schmöker im besten Sinne, und während der Lektüre wurde für mich nochmal sinnlich sehr deutlich die Notwendigkeit neuer Orientierungen im Fachgebiet der Psychotraumatologie mit all seinen Facetten. Das vorliegende Handbuch ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg!