Zur Neurophysiologie nach schweren Kindheits-Traumata
Die Entwicklung von Gehirn und Psyche bei Kindern: Normalität und traumatische Störung
Frühe psychisch traumatisierende Erfahrungen können in Interaktion mit genetischen Prädispositionen die Gehirnentwicklung und die Entstehung psychischer Erkrankungen einschließlich schwerer Persönlichkeitsstörungen begünstigen.
Ein kompliziertes Netzwerk miteinander verschalteter Nervenzellen ermöglicht es dem Menschen, wahrzunehmen, zu denken, zu lernen, sich zu erinnern und zu fühlen.[1] Dieses Netzwerk wird in seiner Funktionsweise durch neuromodulatorische Substanzen (Transmitter, Peptide, Hormone) beeinflusst. Die Freisetzung von Neuromodulatoren bewirkt, dass die Reaktion der Zellen auf einen Reiz und damit die Informationsverarbeitung erhöht oder vermindert werden. Genetische Prädispositionen (Polymorphismen) und Erfahrungen, insbesondere solche vor und in den ersten Jahren nach der Geburt bringen eine individuell unterschiedliche Verschaltung zwischen den Zellen und einen charakteristischen neuromodulatorischen Einfluss hervor und bilden so die Grundlage für die Persönlichkeit des Menschen. In der frühen Kindheit erlebte extrem negative Erfahrungen wie Störungen in der Mutter-Kind-Interaktion, Vernachlässigung, sexueller und physischer Missbrauch, ein Verlust der Eltern oder eine lange Trennung von ihnen können über eine Veränderung der Gehirnentwicklung und -verschaltung die Entstehung psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen begünstigen.
Normale Gehirnentwicklung
In den ersten Wochen der embryonalen Periode entstehen die Gewebe und Organe. Es schließt sich eine Phase des Wachstums und der histologischen Differenzierung an, die fötale Periode. Ab der dritten Woche bildet sich die Neuralplatte aus, aus der sich das Zentralnervensystem entwickelt. Die Neuralplatte verlängert sich und vertieft sich in der Mittellinie, sodass sich gegen Ende der vierten Woche im Prozess der Neurulation das aus neuronalen Stammzellen zusammengesetzte Neuralrohr bildet. Im Prozess der Differenzierung entsteht infolge einer lokal spezifischen Signalgebung benachbarter Zellen eine große Vielfalt morphologisch und funktional unterschiedlicher Nervenzelltypen. Im Alter von fünf Wochen werden die fünf grundlegenden Hirnstrukturen sichtbar: Telenzephalon, Dienzephalon, Mesenzephalon, Metenzephalon und Myelenzephalon.[2] Innerhalb des Telenzephalons entsteht durch Wanderung der jungen Nervenzellen in Richtung Hirnoberfläche der Kortex. Diese Wanderung wird durch ein Gerüst spezialisierter Zellen (Radiärfaserglia) ermöglicht.[3] Die ersten Verbindungen zwischen den oft weit entfernten Zellen entstehen, indem die Fortsätze der Neurone, die Axone, chemischen Signalen der zellulären Umgebung folgen, in ihrer Zielregion aufgrund weiterer spezifischer Moleküle auf der Oberfläche der Zellmembranen ihre Zielzellen erkennen und eine Verbindung aufbauen (Synaptogenese). Diese Prozesse sind anfänglich im Wesentlichen genetisch determiniert. Jede Zelle hat zahlreiche synaptische Partner, und ein initiales Gerüst neuronaler Verschaltungen ist gekennzeichnet durch Überproduktion und Redundanz synaptischer Kontakte. Dieses Verschaltungsmuster wird dann pränatal und während der ersten Lebensjahre in Abhängigkeit von der Aktivität der Synapse verfeinert: Synaptische Verbindungen, die aktiv sind, werden stabilisiert, nicht aktive Synapsen werden eliminiert und entsprechende Axone ziehen ihre Verzweigungen zurück (Synapsenelimination). Erfahrungen legen fest, welche synaptischen Verbindungen genutzt werden, und können hierüber die Struktur des entstehenden neuronalen Netzwerkes determinieren.[4]
In Lernprozessen späterer Lebensabschnitte kommt es ebenfalls zu einer Umgestaltung neuronaler Verschaltungen, jedoch scheint die umfangreiche Rückbildung der synaptischen Kontakte, einschließlich des Rückzugs der entsprechenden Fortsätze, charakteristisch für die frühe Hirnentwicklung zu sein.[5, 6] Ein weiterer wichtiger Entwicklungsprozess ist die Myelinisierung der Zellfortsätze. Die Myelinisierung, d.h. die isolierende Umhüllung der Axone durch spezialisierte Gliazellen, ermöglicht eine schnelle axonale Weiterleitung von Aktionspotenzialen. Der Zeitverlauf der Myelinisierung sowie die zuvor aufgezeigten Prozesse der Synaptogenese und der Synapsenelimination verlaufen regional unterschiedlich und stehen in einem Zusammenhang mit den Funktionen der jeweiligen Hirnregionen. Bereiche des Gehirns, die mit früh entstehenden Funktionen wie etwa den autonomen Reflexen befasst sind, reifen früh aus. Andere Bereiche des Gehirns, etwa solche, die in einem Zusammenhang mit Handlungsplanung und Emotionsregulation stehen, benötigen Jahrzehnte für ihre Reifung.[7, 8]
Auswirkungen psychischer Traumatisierung auf die Hirnentwicklung
Frühe, insbesondere negative Erfahrungen können das spätere Muster synaptischer Verschaltungen nachhaltig beeinflussen, und zwar insbesondere im Bereich der sogenannten Stress- oder HPA-Achse und des serotonergen Selbstberuhigungssystems (s.u.). Sie können darüber hinaus in einer Wechselwirkung mit genetischen Prädispositionen die spätere Funktionalität dieser Systeme bestimmen: Individuelle Erfahrungen werden von einem charakteristischen Ausmaß der Freisetzung verschiedener Neuromodulatoren begleitet. Das pränatal und während der frühen Kindheit vorhandene Ausmaß freigesetzter Neuro-modulatoren (CRF, Kortisol, Serotonin, Oxytocin) ist von langfristiger Bedeutung, denn es kann etwa über die Hoch- oder Herunterregulation der Expression von Rezeptoren dieser Neuromodulatoren das Ausmaß der langfristigen Freisetzung sowie den späteren Einfluss dieser Substanzen auf verschiedene Hirnstrukturen determinieren.[9, 10]
Frühe traumatische Erfahrungen, etwa früher Missbrauch oder Vernachlässigung, können beispielsweise die Expression von Rezeptoren des Stresshormons Kortisol im Hippocampus langfristig erhöhen oder verringern und hierüber eine entsprechend veränderte basale und/oder stressbedingte Kortisolfreisetzung hervorbringen. Verschiedene Faktoren, etwa die Natur der traumatischen Erfahrung, der Zeitpunkt des Auftretens oder der Kontext dieser Erfahrung, können festlegen, ob eine erhöhte oder eine verringerte Kortisolfreisetzung auftritt. So wurde etwa eine Kortisol-Hyperfunktion als Folge moderater Misshandlungen demonstriert, während schwere Misshandlungen eine langfristige Kortisol-Hypofunktion bedingen.[11] Eine Kortisol-Hyperfunktion wurde im Kontext einer melancholischen Depression beschrieben, während eine Kortisol-Hypofunktion in einem Zusammenhang mit atypischen Symptomen einer Depression,[12] einer PTSD[13] oder einer antisozialen Persönlichkeitssstörung[14] steht. Ein weiteres neuromodulatorisches System, das massiv durch frühe traumatische Erfahrungen beeinflusst wird, ist das serotonerge System als wichtiges System der Selbstberuhigung und Emotionsregulation. Frühe Stresserfahrungen können eine Veränderung der serotonergen Innervation auslösen und hierüber das spätere Ausmaß der serotonergen Übertragung sowie deren Fähigkeit beeinflussen, die Aktivität verschiedener Hirnstrukturen zu modulieren.
Traumatische psychische Erfahrungen können demzufolge durch eine erfahrungsabhängige Synapsenelimination die Struktur der neuronalen Verschaltungen und hierüber sowie über eine Festlegung der neuromodulatorischen Übertragung deren Funktion beeinflussen. Von besonderer Bedeutung sind hierbei insbesondere solche Hirnstrukturen, die an der Verarbeitung emotional-affektiver Informationen beteiligt sind, so etwa die Amygdala (u.a. zuständig für die Bewertung des emotionalen Charakters von Reizen) oder der ventromediale präfrontale Kortex (u.a. wichtig für die Selbstwahrnehmung und Emotionsregulation). Eine Glukokortikoid-Hyperfunktion aufgrund eines moderaten Ausmaßes negativer Erfahrungen11 könnte in einer langfristig erhöhten Aktivität der Amygdala und des ventromedialen präfrontalen Kortex resultieren, während ein schwerer Missbrauch über eine Glukokortikoid-Hypofunktion[11] mit einer langfristig verringerten Aktivität der Amygdala und/oder des ventromedialen präfrontalen Kortex und damit einhergehenden Defiziten in der emotionalen Bewertung, der Selbstreflexion, aber auch der Empathie verbunden sein könnte.[15] Auf der Ebene psychischer Erkrankungen wurde im Kontext einer Depression eine erhöhte Funktion von Amygdala und ventromedialem präfrontalem Kortex gefunden,[16, 17] während eine psychopathische Störung von einer verringerten Aktivität begleitet wird.[18]
Aus diesen Befunden ergibt sich die gesellschaftlich wichtige Erkenntnis, dass präventive und kompensatorische Maßnahmen so früh wie möglich getroffen werden müssen.
Autoren:
Dipl.-Biol. Nicole Strüber
Universität Bremen, Institut für Hirnforschung
AG Dicke-Roth, 28334 Bremen
E-Mail:
Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth
Universität Bremen, Institut für Hirnforschung
28334 Bremen
E-Mail:
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